Kein Kuss unterm Mistelzweig

Kein Kuss unterm Mistelzweig
Weihnachts- und Adventgeschichten
– Vom Bub, der gerade erst Englisch lernt und genau weiß, dass ‚Angels‘ Engel heißt.
– Vom müden Christkind, das sich nach Veränderung sehnte und daher einen ‚Hukmukfuk‘ machte.
– Vom Feuerwehrmann, der ein harter Hund war, aber am Heiligen Abend fast ein wenig weinen musste.
? Warum ein selbstgepflücktes Edelweiß nicht das eigentliche Geschenk ist.
? Warum es auch zu Weihnachten gefährlich ist, einem Sandler ein Weihnachtsgeschenk zu machen.
? Ja… und warum die Schwester keinesfalls unterm Mistelzweig geküsst werden darf.

60 Weihnachts- und Adventgeschichten. Zum Entspannen und Genießen. Zum Selberlesen in einem gemütlichen Sessel. Oder zum Vorlesen vor kleinem oder größerem Publikum.
Gefühlvolles, Kurioses, Überraschendes, Seltsames und Spannendes.
Inclusive zehn Geschichten für Kinder, vier Weihnachtsrätsel und ein Weihnachtskekserl-Lieblingsrezept

ISBN 978-3-903385-26-9, Taschenbuch, 300 Seiten

Eine Geschichte…

Da war ein Stern

Es ist einer jener Winter mit viel Schnee. So richtig viel Schnee. Und weil heute am Heiligen Abend die Kinder ohnedies kaum zum Aushalten sind, weil sie eben schon so aufgeregt sind, fahren die zwei Familien hinauf zu einer dritten, befreundeten Familie. Denn sie besitzen ein Wochenendhaus nördlich von Hellmonsödt.
Sie kommen, um eine nachmittägliche Weihnachts-wanderung zu machen. Etwa eine dreiviertel Stunde Wegzeit. Als sie abmarschieren – sechs Erwachsene und fünf Kinder zwischen acht und zwölf – herrscht ein traumhaftes Wetter. Tiefblauer Himmel. Die Wintersonne liegt über den verschneiten Wiesen, Wäldern und Feldern. Hausdächer, Hecken und Sträucher sind schneebedeckt. Unberührtes Winter-Wonderland. Der Neuschnee lastet schwer auf den Ästen der Tannenbäume. Hat sich auch an den Stämmen angelegt. Die spektakuläre Schönheit der märchenhaften Winterlandschaft verzaubert alle. Nur im Norden stocken ein paar dunkle Wolken auf. Sie scheinen nicht bedrohlich.

Bereits der Weg über das tiefverschneite Feld ist mühsam. Bei jedem Schritt sinken sie tief ein. Als sie ein Waldstück erreichen und daran entlanglaufen, geht’s etwas besser. Hier ist der Schnee nicht so tief. Der Weg führt in eine kleine Mulde hinunter und hier scheint der Schnee etwas angeweht. Auf einmal versinken sie bis zu den Knien in der flockigen weißen Pracht. Es ist anstrengend. Sie beginnen zu keuchen.
Mehr als die Hälfte der Runde ist geschafft. Nur mehr ein letztes Feld liegt vor ihnen. Das müssen sie noch überqueren. Axel, der ganz vorne geht, bricht plötzlich ein und steckt bis zur Hüfte im Schnee. Er kämpft sich weiter, denn es wird sicher bald wieder leichter werden. Die Kinder quengeln.

Ein Wölkchen schiebt sich vor die Sonne. Als sie hochsehen, erblicken sie nicht nur ein einzelnes Wölkchen. Die anfangs so weit im Norden aufsteigenden Wolken sind als dicke, fast schwarzblaue Wolkenwand herangerast. Augenblicklich beginnt es in dicken Flocken zu schneien.
Sollen sie umkehren? Unsinnig! Der Weg zum Ziel ist sicher um vieles kürzer als der Rückweg. Also, weiter geht’s. Bald ist kaum mehr ein Vorankommen im hüfthohen Schnee. Die Kinder müssen an der Hand gehen, sonst hätten sie keine Chance auf ein Weiterkommen. Im dichten Schneetreiben ist nicht mehr viel zu sehen. Zwei Kinder beginnen zu weinen. Der Kleinste hat Kerzen mitgenommen, weil sie doch vorhatten, in der Natur einen kleinen Baum zu schmücken. Die Kerzen anzuzünden. Ein Weihnachtslied zu singen. Der Kleine wirft wütend die Kerzen in den Schnee.

Jetzt ist auch noch Wind aufgekommen, der sich binnen einer Minute in einen Schneesturm verwandelt. Es hilft nichts, sie müssen weiter. Die Erwachsenen sind alle mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Mit ihren unbestimmten Ängsten. Denn das hier ist ‚nicht ohne‘. Was ist, wenn der Schnee noch tiefer wird? Zurück können sie kaum noch. Müssen nur noch sehen, dass sie irgendwie zum Haus kommen. Und sie sorgen sich um die Kinder.
Kalt ist ihnen nicht, dazu ist die Anstrengung zu groß. Aber die Temperatur ist gefallen. Wohl auf gefühlte minus fünfzehn Grad. Fingerspitzen und Zehen werden schön langsam taub. Eigentlich müssten sie rasten, aber die vom Sturm gepeitschten Schneeflocken stechen wie Nadeln ins Gesicht. Die Kräfte beginnen zu schwinden.

Einen Fuß vor den anderen. Immer weiter. Der Weg wird nicht leichter. Die Kinder weinen nun alle. Es ist keine Zeit, sie zu beruhigen. Sie müssen weiter. Wenn sie zu langsam sind, werden sie eingeschneit. Können dann überhaupt nicht mehr weiter. Sie bleiben dicht hintereinander. Nicht auszudenken, wenn sie sich auch noch aus den Augen verlieren. Jetzt sind es nicht mehr diffuse Befürchtungen. Jetzt ist es nackte Angst. Wissen im dichten Schneegestöber nicht einmal mehr, ob sie in die richtige Richtung unterwegs sind. Einfach nur weiter. Auch wenn es noch so schwerfällt. Sonst werden sie hier erfrieren.

Klaus löst Axel an der Spitze ab. Denn vorne zu gehen, ist am anstrengendsten. Statt einer dreiviertel Stunde sind sie jetzt schon anderthalb unterwegs. Alle sind fast am Ende ihrer Kräfte. Sie müssen eine Pause einlegen. Zumindest eine kurze. Sie kuscheln sich alle zusammen. Zwei Minuten. Drei Minuten. Verschnaufen. Aber die Pause ist noch beängstigender als das Vorwärtskämpfen. Denn der Schneefall ist so stark. Sie müssen weiter. Weiter.
Zu alledem scheint es schon zu dämmern zu beginnen. Kaum zu glauben, dass das noch möglich ist, aber das Unwetter wird noch fürchterlicher. Kälte. Durch den schneidenden Sturm sind die gefrorenen Schneeflocken Glassplittern ähnlich. Sie peinigen die Haut wie mit Nadelstichen. Sie können die Augen kaum noch offenhalten.

Klaus sinkt in den Schnee.
»Ich kann nicht mehr«, flüstert er, als sie ihm aufhelfen.
Harald übernimmt die Führung. Ruft ihnen immer wieder Mut zu. Und plötzlich biegt er nach rechts ab.
»Warum?«, schreit jemand von hinten.
»Ich weiß nicht«, brüllt er zurück, »eine Ahnung.«
Sie sind dabei, die Hoffnung aufzugeben. Einzig die Angst um die Kinder, die jetzt schon gezogen und durch den Schnee geschleift werden, treibt sie an.
Und dann stehen sie plötzlich vor dem Haus. Es war aus drei Meter Entfernung noch nicht zu erkennen gewesen. Zitternd drücken sich alle gegen die Hausmauer, während die Männer den Schnee von der Haustüre wegschaufeln.
Dann sind sie drinnen. Hier ist es behaglich warm. Alle rufen durcheinander. Werfen die durchnässten Kleider ab. Sinken erschöpft zu Boden.

Für die Kinder gibt’s heißen Kakao. Glühwein für die Eltern. Erfrierungen hat niemand. Gott sei Dank. Und nach Hause kann niemand. Völlig unmöglich, mit dem Auto nach Linz zu fahren. Zum Essen ist genug da. Schließlich wurde ja für die ganzen Weihnachtsfeiertage eingekauft.
Und dann brennen die Kerzen am Christbaum. Es wird ein wunderschönes Weihnachtsfest. Alle sind irgendwie… in Hochstimmung. Geradezu euphorisch. Die Kinder sind nicht einmal traurig, dass es keine Geschenke gibt. Vielleicht fühlen sie in ihrem Inneren, dass sie heute auch sterben hätten können.

Später, lang nach Mitternacht, als die Kinder schon schlafen, sitzen die Eltern noch beisammen.
»Harald, warum bist du plötzlich nach rechts abgebogen?«
»Ich habe einen Stern gesehen«, gibt er grinsend zur Antwort.
»Einen Stern. Das gibt’s doch gar nicht. Wir haben nicht einmal die Hand vor den Augen gesehen.«
»Doch… da war ein Stern…«

Scroll to top