Walters Steckn

Walters Steckn

Marrakesch, Marokko. 2022. Walter sammelt Steckn. Also Spazierstöcke. Im Basar werden wir auf ein Standl aufmerksam, das solche Steckn verhökert und wir machen unsererseits Walter darauf aufmerksam. Walter gibt sich interessiert. Der Steckntandler natürlich auch.
Walter verliebt sich in einen Steckn mit einem silbernen – oder eisernen? – Knauf, der einen Löwen darstellen soll. Nun beginnen die Preisverhandlungen. Obwohl die Vorstellungen naturgemäß erst weit auseinanderliegen, kommt es schließlich – wie meist auf orientalischen Basars – zu einem beidseits akzeptierten Ergebnis: 800 Dirham. Doch der Moment der Übergabe hat noch eine Überraschung bereit. Der Knauf geht ab.
»Na, dann eben nicht«, meint Walter. Er wendet sich ab, um den Ort des gescheiterten Geschäftsabschlusses zu verlassen. Der Steckntandler gibt aber nicht so schnell auf. Er zerrt an Walters Armen, will ihn nicht weglassen. Er will den Steckn sofort reparieren und den Knauf wieder anmachen. Da wir aber nicht mehr länger warten können – wir müssen bald weiter in Andre Hellers Garten – ist der Steckentandler chancenlos. Wir verlassen sein Standl durch die engen Gänge des Basars. Hören den Tandler noch lange hinter uns her rufen und lamentieren.
Irgendwann finden wir den Weg aus dem Basar hinaus – was gar nicht so einfach ist – und kommen schließlich auf den menschenüberlaufenen Gauklermarkt Djemaa el Fna. Wir bleiben dicht beisammen, denn bei dem Massenandrang finden wir uns nie wieder, wenn Einer verloren geht. Plötzlich hören wir Geschrei hinter uns. Was geschrien wird, verstehen wir nicht. Ein Mann drängt sich eilig durch die dichten Reihen. Läuft auf uns zu. Es ist der Steckntandler. Er hat den Knauf repariert und uns und Walter aus unerklärlichen Gründen gefunden. Wir vermuten, er hat unsere Handys geortet, eine andere Möglichkeit scheint es nicht zu geben. Wie auch immer. Jetzt kann das Geschäft abgeschlossen werden. Steckntandler glücklich. Walter glücklich. Alle glücklich.

Der Tag der Rückreise naht. Problem: der Steckn geht natürlich in keinen Koffer hinein. Ohne Knauf wär das gegangen, aber der lässt sich nicht abnehmen. Unsere Rückreise führt über Madrid und mit diesem Flughafen hat Walter schon schlechte Stecknerfahrungen gemacht. Seinerzeit brachte Walter einen Steckn aus Übersee mit und dort verwei-gerte man ihm – dem Steckn – den unverpackten Weiterflug, da er ein Schlagwerkzeug sei, eine Waffe. Nun, dieses Risiko konnte Walter diesmal nicht eingehen, denn unser Zwischenaufenthalt dauerte nur eine Stunde und da wäre sicher keine Zeit für derartige Verhandlungen mit dem Sicherheitspersonal. Also lässt Walter den Stecken schon im Hotel vom Frühstücksboy verpacken. Tausend Mal in Zeitungspapier eingewickelt und verklebt. Dem Steckn kann nichts passieren.

Walter gibt den Stecken am Flughafen als separates Gepäckstück auf.

München, Franz-Josef-Strauß-Flughafen (MUC): Wir erhalten unsere Koffer. Auch Walter. Was fehlt? Natürlich, Walters Steckn. Er kommt nicht und kommt nicht. Walter hypnotisiert das Laufband. Bald sind alle Gepäckstücke abgeräumt, alle Reisenden sind bereits weg. Noch lange steht Walter traurig da. Dann kommt auch das Gepäckband zum Stillstand. Walter ist ganz alleine und verzweifelt. Eine Träne rinnt ihm über die Wange. Na, es nützt nichts, das SMS-Taxi wartet. Walter muss mit uns fahren. Ohne Steckn.

Zwei Monate später: Walter hat etwa zweitausend Reklamationen hinter sich. Per Telefon. Per E-Mail. Per Fax. Per Brief. Per Brieftaube. Plötzlich klingelt es an seiner Haustür. Ein Paketbote. Der Steckn ist da. Unglaublich! Also doch noch! Aber… der Knauf ist ab. Schade. Ohne Knauf wär‘ der Steckn auch in den Koffer gegangen.
Ja, so könnte es gewesen sein. In Wirklichkeit kam es anders.

Walter gibt den Stecken am Flughafen als separates Gepäckstück auf.

Boarding ist pünktlich. Keine Verspätung. Allgemeines Aufatmen. Aber dann sitzen wir im Flieger. Und warten. Und warten. Wir starten nicht. Eine Dreiviertelstunde sitzen wir nun schon im heißen Flieger. Dann eine Durchsage.
»Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass sie nochmals die Maschine verlassen müssen. Bitte alle aussteigen.«
Was ist da los? Warum müssen wir wieder aussteigen? Eine Panne am Flugzeug? Na, das wird eine Verspätung!
Am Flugsteig stehen hunderte Gepäckstücke. Eingekreist von zwanzig Militärpolizisten mit Maschinenpistolen. Wir werden gebeten, unser eigenes Gepäck zu identifizieren. Jeder stellt sich zu seinem Koffer. Auch Walter. Da fällt ihm ein, dass er ja auch den Stecken noch identifizieren muss. Er sucht ihn. Findet ihn.
Im gleichen Augenblick stürzen vier Polizisten auf ihn zu. Werfen ihn zu Boden. Fixieren ihn. Reißen ihm die Arme auf den Rücken. Legen ihm Handschellen an. Schleifen ihn davon. Wir sehen zu. Starr vor Schreck. An einen Abflug ist nicht zu denken. Wäre sowieso nicht gegangen, denn wenig später werden wir alle verhaftet. Identifiziert als Freunde von Walter. Werden die ganze Nacht verhört. Was wir herausbekommen, ist lediglich, dass in Walters Stecken Sprengstoff gefunden wurde.
Zwei Tage später kommt ein Vertreter der österreichischen Botschaft. Wir kommen frei. Walter nicht. Von ihm hören und sehen wir nichts mehr.
Ein Jahr später ist Walter wieder da. Aus Guantanamo. Er sieht nicht gut aus.

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